"Liebling, ich schau Dir nicht beim Sterben zu."
Teil II: Was Angehörige TUN KÖNNEN und was nicht.

Jetzt aber genug mit den schlechten Nachrichten, denn Angehörige psychisch belasteter Menschen können sehr viel tun. Sie sind wichtig. Wenn sie bereit sind, sich zu informieren, zu reflektieren und mit dem/der Betroffenen offen und auf Augenhöhe zu kommunizieren, machen sie sogar oft den entscheidenden Unterschied.

Dennoch war es mir wichtig, zunächst die Grenzen aufzuzeigen.
Ich möchte ermutigen, Hoffnung geben – aber auch ehrlich sein.

Und die Wahrheit ist: Ich habe so viele Jahre in der „Es-ist-doch-alles-nicht-so-schlimm“-Blase gelebt, habe mich so viele Jahre kaputt gemacht ohne es zu sehen, habe die kognitive Dissonanz gekonnt und langanhaltend durch alle möglichen Strategien ausgeglichen – und niemand in meinem Umfeld hätte das verhindern können.

Wie schwierig das für meine Lieben war, kann ich nur erahnen.
Und das tut mir leid. Sehr leid.

Umso dankbarer bin ich, dass sie an meiner Seite geblieben sind. Dass sie nicht aufgegeben haben. Mich. Die Hoffnung. Den Glauben an eine Veränderung.

Aber auch die Forderung nach einer Veränderung. Liebevoll, aber hartnäckig.
Ich glaube, das hat mich gerettet. Lange bevor ich in der Lage war mich selbst zu retten.

Wie der schrill piepsende Wecker am Morgen, der einen immer wieder so unvermittelt aus süßen Träumen reißt, dass man ihn am liebsten an die Wand werfen würde. Und den man doch jeden Abend stellt. Weil man tief im Inneren weiß, wie viele schöne Momente man verpasst, wenn man im Bett bleibt.
Lange Zeit hat der Wecker meines Umfelds umsonst geschrillt. Lange Zeit konnte ich nicht daran glauben, dass die Welt außerhalb des gemütlichen Bettes meiner Erkrankungen wirklich schöner ist. Lange Zeit habe ich mich einfach umgedreht und bin liegengeblieben.
Die Angst überwog.
ABER nur diese beharrliche Erinnerung an das Leben außerhalb hat mich letztlich dazu gebracht, es zu versuchen. Nur die beharrliche Erinnerung meiner Lieben an all das, was nach der Genesung vielleicht auf mich wartet, hat mich an den Punkt gebracht, an dem ich heute stehe.

Ich brauche einen neuen Wecker. Meiner klingelt immer, während ich schlafe.

— Unbekannt

Und damit zurück zur Frage danach, was Angehörige tun können:

Leider oft nicht viel.
Aber manchmal trotzdem das Entscheidende.

Was Du als Angehöriger tun kannst

Sei der Wecker

Akzeptiere die kognitive Dissonanz des/der Betroffenen und die Tatsache, dass er oder sie die meiste Zeit in einer Scheinwelt lebt.

Akzeptiere es, aber helfe nicht beim Aufbau dieser Welt.

Helfe nicht beim Leugnen des Problem. Setze den Betroffenen nicht unter Druck, aber sieh auch nicht weg.

Kleines Beispiel:
Ich selbst habe auch im Untergewicht noch Sport getrieben. Nicht übermäßig viel – nach gesunden Maßstäben. Aber zu viel für einen unterernährten Körper. Ein Teil von mir wusste das, irgendwie. Vor allem aber wirkten meine „Ist-doch-alles-gut“-Mechanismen, wie im letzten Beitrag beschrieben.

Was in dieser Situation NICHT half:
Verbote. Streit. Ultimaten.

Was jedoch half:
Neutrale Hinweise. Äußerung von Sorge.

Also NICHT: "Du machst Dich und Deinen Körper damit kaputt! Lass das oder Du brauchst Dich nicht mehr zu melden."
Sondern: "Bist Du sicher, dass Dir der Sport gut tut und nicht vielleicht schadet? Es ist Deine Entscheidung, aber ich glaube, Deinem Körper würde etwas Ruhe besser tun."
Auf diese Weise war es mir möglich von einem aggressiven "Lass mich in Ruhe, das ist meine Sache" über ein kleinlautes "Ich weiß, aber ich kann nicht anders" zu einem hoffnungsvollen "Hilfst Du mir, einen Ausweg zu finden?" zu kommen.

Nicht von heute auf morgen. Sicher nicht.
Deshalb braucht es neben einer hohen Frustrationstoleranz vor allem eines, viel Geduld.
Was mich direkt zum nächsten Punkt bringt:
Akzeptiere den Erkenntnisprozess, der manchmal ermüdend langsam verläuft und …

Sei Hoffnungsbewahrer*in

Vom Punkt der Krankheitseinsicht über die Suche nach der passenden Hilfe bis zum Genesungsprozess an sich – eine ernste psychische Krise zu überwinden ist harte Arbeit. Eine psychische Erkrankung hinter sich zu lassen, ist selten ein linearer Prozess. Es ist ein langer Weg gepflastert mit Hürden und Stolpersteinen, voller Hochs und Tiefs.

Da kannst Du als Betroffene*r schon einmal die Hoffnung verlieren.
Die Hoffnung und den Glauben an Dich selbst. Den Glauben an ein besseres Leben.

Sei Du als Angehöriger die Geduld, die der Betroffene selbst oft nicht hat.
Sei die unerschütterliche Zuversicht. Die unauslöschbare Hoffnung.

Zeige dem/der Betroffenen die schöne Seiten des Lebens. Zeige ihm/ihr, warum es sich zu leben lohnt, warum es sich gesund werden lohnt.
Bewahre die Leichtigkeit. Den Spaß und die Freude am Leben.
Spätestens hier wird klar, warum Angehörige sehr gut auf ihre eigenen Kräfte achten sollten, oder?

Sei die Normalität.

Sieh den Betroffenen als das was er ist: als Mensch, den Du schätzt und liebst.

Eine psychische Krise erfasst den ganzen Menschen. Seine Gefühle, seine Gedanken, sein Handeln. Alles scheint plötzlich von der Krankheit bestimmt. Das ist normal. Bei einer körperlichen Erkrankung passiert das Gleiche.
Vielleicht kennst Du den Spruch: "Ein gesunder Mensch hat tausend Wünsche, ein kranker nur einen einzigen." Bei psychischen Erkrankungen scheint mir das für das Umfeld noch mehr zu gelten als für den/die Betroffene selbst…

Es fühlt sich so an als würde der Mensch, Anna, plötzlich verschwinden.
Als würde er keine Rolle mehr spielen, als würde sich niemand mehr für ihn interessieren.
Familie nicht, Freunde nicht und Ärzte sowieso nicht.

"Hallo, ich bin Anna und ich habe Depressionen."
"Hallo, ich bin Anna und ich habe eine Essstörung.“

Statt

"Hallo, ich bin Anna und ich liebe das Schreiben!"
"Hallo, ich bin Anna und forsche an Alzheimer."

Na? Hattest Du unterschiedliche Bilder des Menschen im Kopf?
Ja?
Ich auch.

Plötzlich möchte jeder nur noch über die Erkrankung sprechen. Oder – was noch schlimmer ist – die Erkrankung wird zwar nicht offen thematisiert, aber immer mitgedacht. Sie sitzt in jeder Situation mit am Tisch.
Ich verstehe das!
Ist dieser permanente unterbewusste Fokus auf das Thema doch Produkt der Sorge gegenüber dem geliebten Menschen.

Aber dennoch: es ist hart.
Und es führt dazu, dass Du als Betroffene/r die Verbindung zu Dir selbst verlierst und Dich irgendwann vollständig mit der Krankheit identifizierst. Ein Punkt der die Genesung letztlich sehr erschwert.

Richte den Fokus also bewusst auf die gesunden Seiten der Person. Führe "ganz normale" Gespräche über "ganz normale" Themen. Unternehmt "ganz normale" Dinge.
Du glaubst gar nicht wie gut banale "Normalität" tut, wenn Deine Welt aus den Fugen geraten scheint.

Und Du erinnerst Deine*n Lieben durch solche Gespräche und Unternehmungen regelmäßig daran, was er oder sie NOCH ist. Menschen, die helfen Deine echte Identität abseits der Erkrankung zu bewahren, sind in dieser Situation gold wert.

Vermeide Ratschläge und Bewertungen

Das menschliche Gehirn ist auf Lösungssuche gepolt.
Sobald uns jemand von seinen Problemen erzählt, gehen wir innerlich mögliche Lösungen durch noch bevor der Andere den Mund geschlossen hat.

Bedenke aber:

  • Wenn die Lösung einfach wäre, wäre Dein Gegenüber mit Sicherheit schon selbst darauf gekommen. Gerade bei ernsthaften psychischen Problemen sind Lösungen erfahrungsgemäß nicht so leicht, wie sie klingen. Die Umsetzung ist es oft, an der es scheitert. Und mit reinem Willen ist es selten getan.
  • Oft braucht ein*e Betroffene*r zunächst einmal gar keine Ratschläge.
    Was er oder sie in allererster Linie braucht, ist ein offenes Ohr. Was er oder sie braucht ist Verständnis. Was er oder sie braucht ist Akzeptanz.

Vermeide also Sätze, die mit "Du musst doch nur…" oder "Warum machst Du nicht einfach…" beginnen.
"Also Anna, BITTE! Das ist doch selbstverständlich!" magst Du jetzt denken. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung: solche Sätze verlassen unseren Mund oft schneller als wir denken können.

Ähnlich geht es uns mit Bewertungen. Unser Gehirn denkt in Schubladen.
Sobald uns jemand von seinen Problemen erzählt, … Du weißt schon.

Vermeide also jegliche Spekulationen über Diagnosen und Symptome. Vermeide Einteilungen in gut und schlecht, in hilfreich und schädlich, in gut und böse.
Ein Betroffener be- und verurteilt sich selbst schon genug.
Es ist heilsam, wenn sein Gegenüber das nicht tut.

Und last but not least:

Sei Vorbild

Wir Menschen lernen am Beispiel. Das ist als Kind so und verschwindet bei Erwachsenen nicht gänzlich.
Menschen in psychischen Krisen brauchen Orientierung. Am besten gibst Du diese Orientierung, indem Du hilfreiche Verhaltensweisen und Einstellungen vorlebst.
Indem Du

  • Deine eigenen Grenzen wahrst und verteidigst.
  • Verantwortung für Dich und Dein Leben übernimmst, selbstbestimmt handelst.
  • gut für Dich selbst sorgst, achtsam und liebvoll mit Dir umgehst.
  • Dir selbst Hilfe und Beratung suchst, wenn es nötig ist.
  • Dein Leben genießt, so gut Du kannst.

Das hört sich nach einer unschaffbaren Aufgabe an?

Das hört sich nicht nur so an. Das FÜHLT sich auch häufig so an.
Es fühlt sich an wie ein ständiger Balanceakt.
Du fühlst Dich oft so hilflos, drohst zwischendurch zu verweifeln, dann wieder packt Dich die Wut.

Auch das ist normal. Auch Du bist nur ein Mensch. Auch für Dich gilt: Alles darf sein.

Doch wie eine liebe Kollegin von Irrsinnig Menschlich immer sagt:
Du kannst Dir selbst vertrauen. Du hast alles, was Du brauchst um Hilfe zu geben, immer dabei.

  • Deine Ohren, um einfach nur zuzuhören.
  • Deine Augen, um zu zeigen: "Ich sehe Dich"
  • Deinen Mund, um zu fragen: "Was brauchst Du gerade? Was kann ich Dir geben?"
  • Deine Hände für eine liebevolle Berührung.
  • Deine Arme für eine sanfte Umarmung, um zu zeigen: "Ich halte Dich"

Hab keine Angst, Du kannst kaum etwas falsch machen. Bleibe in Deinen Äußerungen bei Dir und lasse Dich nicht entmutigen, wenn Du auf Ablehnung stößt.
Vergib Dir, wenn Du überreagierst.
Achte darauf, Dich nicht selbst zu verlieren.
Das ist schwer genug.

Hilf mir, es allein zu tun.

— Maria Montessori

Ich sitze hier und blicke zurück. Voller Dankbarkeit für die Menschen, die mit mir durch all die schwierigen Zeiten gegangen sind. Voller Dankbarkeit für die Menschen, die immer an meiner Seite waren, die immer an mich geglaubt haben. Die mir immer geholfen haben – machmal auch dadurch, dass sie Hilfe verweigerten.

Für mich gab es keine schönere Aussicht, kein schöneres Ziel als irgendwann wieder glückliche Zeiten mit meinen Lieben erleben zu können. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.

Für mich hat es sich gelohnt. So so sehr.

Und ich glaube, für meine Lieben auch.

Ich mache die Dinge nicht ungeschehen. Ich kann die Vergangenheit nicht zurückdrehen. Ich kann nur das Hier und Jetzt beeinflussen.
Ich kann meine Erfahrungen in etwas Gutes umwandeln. Ich kann heute den Angehörigen anderer Betroffener helfen, die bei mir Rat suchen.

Was für ein Geschenk.

Du hast noch Fragen? Oder möchtest etwas zu dem Thema sagen?
Dann hinterlasse mir einen Kommentar oder schreibe mir über das Kontaktfeld!

Möchtest Du mit mir arbeiten oder hast Interesse an meinem "neuen" Leben?
Viele spannende Details und Hintergründe findest Du auf annafeuerbach.de oder hier auf dem Blog unter Zu Gast bei Anderen.

Links in diesem Beitrag:
Zum Blogbeitrag: Teil I – was Angehörige nicht tun können. Hier findest Du auch viele Adressen und Links zu Hilfsangeboten für Angehörige.
Besonders ans Herz legen möchte ich hier noch meine langjährigen Partner der Werkstatt Lebenshunger in Düsseldorf, die auch hilfreich Beratungsangebote per Telefon oder Videocall ermöglichen.
Zur Website von Irrsinnig Menschlich – der Verein setzt sich seit 20 Jahren gegen Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen ein.

Photo Pixabay: MAKY_OREL

2 comments
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Comments

  • Twicsy

    16. Dezember 2022 at 14:49
    Reply

    Schöner Beitrag, ich habe ihn mit meinen Freunden geteilt.

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