Wissenschaft und Selbsterkenntnis
Eindrücke vom Jubiläumskongress Essstörungen 2017
Teil 1

Wieso habe ich mich eigentlich zu diesem Kongress angemeldet?
Wie zum Teufel bin ich eigentlich auf die Idee gekommen für einen Kongress über Essstörungen 300 km weit in die Untiefen der Tiroler Alpen zu fahren, irgendwo ins Nirgendwo? Ein Kongress über 3 Tage, veranstaltet vom Netzwerk Essstörungen Österreich, bei dem jedes Jahr Experten, Betroffene, Angehörige und Interessierte zusammentreffen, um sich auszutauschen, sich über aktuelle Entwicklungen zu informieren, Kontakte zu knüpfen. Ein Kongress, der nebenbei bemerkt nicht unbedingt billig ist: Kongressgebühr (Teaching Day kostet extra), Anreise, Hotelzimmer, Verpflegung.

Wieso habe ich mich also zu diesem Kongress angemeldet?

Um zu erfahren, wie die fachliche Seite diese Erkrankung sieht?
Um einen Überblick über die verschiedenen Disziplinen und Institutionen zu erhalten, die sich im Umkreis dieser Erkrankung tummeln?
Um zu sehen, was das für Menschen sind, die sich beruflich oder privat mit Essstörungen befassen?
Um mein an wissenschaftlich nachweisbaren Fakten interessiertes Gehirn mit rein sachlichen Informationen über Essstörungen zu füttern?
Oder einfach nur aus freudiger Überraschung, dass im Gegensatz zu den Fachkongressen meiner wissenschaftlichen Vergangenheit kein akademischer Titel als Eintrittskarte auf der eigenen Visitenkarte stehen muss?
Einfach nur weil ich wissenschaftliche Kongresse liebe?
Oder in Wahrheit in der Hoffnung auf Antworten? Antworten auf die Frage, warum ausgerechnet ich, warum ausgerechnet Magersucht? Antworten darauf, was der goldene Weg der Genesung ist? Antworten darauf, wie mein weiteres Leben aussehen kann?
Oder in Wahrheit in der Hoffnung darauf gehört zu werden? Gehört zu werden mit meinen ganz eigenen Erlebnissen, mit meinen ganz eigenen Erfahrungen im Leben mit und beim Kampf gegen die Essstörung?

Eigentlich war es nur ein unbewusster Impuls. Ein unbewusster Impuls, den ich nie hinterfragt habe. Ein unbewusster Impuls, dem ich Anfang des Jahres gefolgt bin, ohne damit zu rechnen, 9 Monate später in einem kleinen idyllischen Bergdorf namens Alpbach auf so viele inzwischen bekannte Gesichter zu treffen. Ohne damit zu rechnen wie kunterbunt zusammengewürfelt Vorträge, Workshops und Teilnehmer sein werden. Und vor allem ohne damit zu rechnen wie umfassend und nachhaltig meine Eindrücke dort sein werden.

Ja, der Kongress wirkte in mir auf so vielen unterschiedlichen Ebenen, auf so vielen unterschiedlichen Ebenen abseits meines analytischen Wissenschaftsgeistes, abseits meiner Ratio, dass ich auch jetzt, gut drei Wochen später, nicht mit Sicherheit sagen kann, alles wirklich verarbeitet zu haben.
Er wirkte auf so vielen unterschiedlichen Ebenen meiner Selbst, dass entgegen meiner Planung hier kein rein wissenschaftlicher Seelenanker-Text entstehen kann und wird. Keine rein wissenschaftliche Abhandlung neu gelernter Fakten, die dem reinen Geist, dem Verstand, dem Denken das Feld überlässt.
(Solltest Du jedoch ein ähnlich großer Wissenschaftsnerd sein wie ich, liste ich am Ende einige Artikel über die vorgestellten Forschungsergebnisse auf, damit Du Dich noch weitergehend informieren kannst.)

Nein, so einfach ist es leider nicht.

Aber von vorne.

Im Vorfeld machte ich mir keine großen Gedanken über den Kongress. Die Karten für die Tagung selbst sowie für den vorgelagerten „Teaching Day“ waren gekauft, die Unterkunft dank einer lieben Zimmergenossin reserviert, die Zugfahrt grob geplant – der Rest würde sich schon ergeben.

Im Nachhinein denke ich, ein Teil von mir wollte sich wohl nicht weiter mit dem Kongress beschäftigen, ein Teil von mir wollte sich nicht damit auseinandersetzen, welche Begegnungen, Erfahrungen, Informationen mich in Alpbach vielleicht erwarten könnten.

Dieser Teil von mir hatte Angst.
So eine diffuse, nicht näher beschreib- oder erklärbare Angst. Eine Angst, die irgendwo in meinem Inneren schlummerte, so weit zurückgedrängt wie möglich. Eine Angst, die mich plötzlich und unerwartet mit ihrer ganzen Stärke traf als ich am Tag der Abreise gerade dabei war meine Sachen zu packen. Sie traf mich so unerwartet und so stark, dass ich versucht war, die ganze Unternehmung kurzfristig abzublasen. Wie anstrengend erschien mir die Reise plötzlich, wie verlockend plötzlich die Aussicht, die nächsten Tage im gewohnten, sicheren Alltagstrott zu verbringen.

Zu meinem großen Glück hatte ich keine Zeit mehr zum Zweifeln, keine Zeit mehr, mir die kommenden Tage in Gedanken schlecht zu reden, keine Zeit mehr mir sämtliche Horrorszenarien auszumalen – schließlich ging mein Zug pünktlich um 14.05 Uhr vom Nürnberger Hauptbahnhof.
Also setzte ich die Taktik fort, die ich die letzten Wochen offensichtlich unbewusst bereits gefahren hatte: Ich unterdrückte die Angst, ignorierte sie, versuchte ihr keinen Raum zu geben, versuchte alle kritischen Gedanken zu verdrängen.

Hätte ich gewusst, was mich in den nächsten Tagen erwartete, wäre ich mit Sicherheit nicht in den ICE 912 nach München gestiegen, wäre ich mit Sicherheit in meinem gemütlichen Nest geblieben. Hätte ich Alles im Voraus gewusst, wäre ich zuhause geblieben, hätte mir Vieles erspart – und mir noch viel mehr vorenthalten. Hätte mir die Gelegenheit für viele unglaublich wertvolle Erfahrungen genommen, die Gelegenheit viele tolle inspirierende Menschen kennenzulernen, die Gelegenheit meinen Horizont zu erweitern, fachlich und vor allem persönlich.

Great Things never came from Comfort Zones.

— Unbekannt

Warum diese Tagung weit außerhalb meiner eigenen Komfortzone lag? Warum diese Tagung für mich so unglaublich anstrengend, so bewegend, so aufwühlend und gleichzeitig so unglaublich bereichernd, so inspirierend, so spannend war?
Ganz einfach: Im Gegensatz zu meinen bisherigen Kongressen fuhr ich nicht nur als Wissenschaftler.
Diesmal fuhr ich als Mensch, als Anna. Ich fuhr nicht nur mit meiner fachlichen Qualifikation, mit all meinem Wissen, mit Daten und Fakten. Ich fuhr auch mit meiner Geschichte, mit meiner Vergangenheit, aber auch mit meiner Zukunft. Ich fuhr mit all meinen Erfahrungen, mit all den sehr persönlichen Gedanken und Gefühlen, die mit dem Thema Essstörung verknüpft sind. Ich fuhr nicht nur mit meinem Geist, sondern auch mit meiner Seele, mit meinem Herz.
Diese beiden Pole in mir in Einklang zu bringen, all die neuen Informationen mit diesen beiden Teilen meiner Selbst zu verarbeiten, Geist und Seele auf einen Nenner zu bringen – DAS war die schier unlösbare Herausforderung dieser Veranstaltung.

Aber zu den Inhalten.

Warum war ich eigentlich „essgestört“?

Diese Frage habe ich natürlich in der Vergangenheit schon ausführlich bearbeitet. Sie gedanklich von links nach rechts gedreht, sie von allen Seiten, aus allen möglichen Perspektiven betrachtet, sie erschöpfend behandelt.
Dachte ich.
Doch Workshop Nr. 1 des Teaching Days warf diese Frage für mich erneut auf, unter einem mir tatsächlich komplett neuen Gesichtspunkt. Unter einem Gesichtspunkt, über den ich mir tatsächlich in der gesamten Zeit meiner Erkrankung sowie der gesamten Zeit meiner Genesung noch nie Gedanken gemacht hatte.
Unter dem Gesichtspunkt der nüchternen Diagnosestellung.
Der Workshop behandelte diese Frage aus der Perspektive von kalten, unerbittlichen Kriterien und Kennzahlen, mit Hilfe derer ein Arzt entscheidet, ob ein Mensch das Label „essgestört“ erhält oder eben nicht.

Referent Hans W. Hoek aus den Niederlanden, ein sehr angenehmer, unterhaltsamer, freundlicher Zeitgenosse, war Mitglied der Arbeitsgruppe, die vor Kurzem den neuen Diagnosekriterienkatalog DSM-5 entwickelte. Er und seine Mitstreiter hatten also die durchaus schwierige Aufgabe, die Entscheidung, wann ein Mensch als essgestört bezeichnet wird, in 5 möglichst klare und konkrete, aber gleichzeitig möglichst umfassende Kriterien zu packen – und damit gleichzeitig die Entscheidung über den weiteren Lebens- und Leidensweg unzähliger Betroffener…

Anhand von verschiedenen Fallbeispielen lernten wir in diesem 90 minütigen Workshop die Unterschiede zwischen den alten und den neuen Kriterien ganz konkret und anschaulich kennen. Wir diskutierten die Vor- und Nachteile der neuen und alten Formulierungen, diskutierten mögliche Folgen und Konsequenzen. Unglaublich interessant, unglaublich inspirierend, unglaublich spannend!
Auf der Metaebene. Auf der Ebene von Geist und Verstand.
Erst viel später wurde mir bewusst, dass mich die Diskussion auch auf einer ganz anderen Ebene getroffen hatte. Der Ebene der eigenen Betroffenheit.
Selbst bei dieser an sich so banalen Diskussion konnte ich mich davon nicht frei machen, konnte die eigene Vergangenheit nicht ablegen. Sie höchstens für eine gewisse Zeit aus meinem Bewusstsein drängen.
Und genau das tat ich auch.

Das war der Beginn. Das war die erste Schippe, die ich in meinem Inneren, in meinem Unterbewusstsein ablagerte. Im Laufe des Kongresses kamen dann noch weitere, sehr viele weitere Schippen hinzu. In meinem Unterbewusstsein wuchs ein Berg. Ein Berg an unbearbeiteten Themen, an unbearbeiteten Fragen, aufgeworfen durch die einzelnen Workshops und Vorträge. Dieser Berg wuchs und wuchs, der Kongress wurde im Verlauf immer anstrengender und anstrengender, ich fühlte mich schlechter und schlechter.

Diese erste Schippe bestand aus Fragen wie:
Was wäre passiert, wenn die Kriterien bei meiner Diagnose damals nicht auf mich zugetroffen hätten?
Was wäre passiert, wenn eine klitzekleine Änderung in der Formulierung der Kriterien damals eine Diagnose verhindert hätten?
Was wäre passiert, wenn meine Hausärztin damals statt ICD F50.0, ICD R48.0 (allgemeines Ermüdungssyndrom) auf die Krankschreibung geschrieben hätte?
Hätte ich dann jemals die umfassende Hilfe erhalten, die ich die letzten Jahre erfahren habe? Hätte die Krankenkasse dann jemals all die teuren Untersuchungen und Behandlungen der letzten Jahre übernommen, einen Klinikaufenthalt bezahlt?
Hätte ich andererseits vielleicht ein anderes, für mich besser passendes Hilfskonzept gefunden? Ein Hilfskonzept ohne die starre Fokussierung auf abnorme Verhaltensweisen, auf Symptome?
Hätte ich dann vielleicht sogar schneller den für mich richtigen Weg im Dschungel der Hilfsangebote gefunden?
Wären mir Ärzte, Berater, Therapeuten unvoreingenommener begegnet?

„Was wäre gewesen wenn“ – Gedanken führen natürlich letztlich zu nichts.
Alles ist gut wie es ist. Alles musste genauso sein. Alles musste genauso sein, damit ich heute so sein kann wie ich bin.
Dennoch finde ich es wertvoll und wichtig sich Gedanken um die Sinnhaftigkeit einer solchen Einteilung, einer solchen Verteilung von allgemeinen Label, allgemeingültigen Stempeln zu machen.

In unserer Welt braucht es harte Kriterien, das ist mir klar. Vor allem wenn es um Geld geht.
Aber können 5 nüchterne Punkte, und seien sie noch so sorgfältig von einer Gruppe von Experten durchdacht, seien sie noch so sorgfältig formuliert, der Lebenswirklichkeit von vielen völlig unterschiedlichen Betroffenen, mit völlig unterschiedlichen Ausprägungen einer Erkrankung, völlig unterschiedlichen Symptomen, völlig unterschiedlichem Leid in irgendeiner Weise auch nur ansatzweise gerecht werden?

Ich hoffe, dass alle Ärzte, alle Therapeuten, alle Menschen, die Tag für Tag solche Label verteilen, sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Ich hoffe, dass sie sich bewusst sind, welche weitreichende Folgen eine verbriefte Diagnose für den Betroffenen haben kann – positive wie negative. Ich hoffe, dass die meinsten Verantwortlichen solche Label nicht leichtfertig verteilen.

Der Name ist nur der Gast der Wirklichkeit.

— Dschuang Dsi

Fortsetzung folgt…

Links in diesem Beitrag:
Zum Blogbeitrag: Seelenanker
Weiterführende Literatur zur Forschung von Hans W. Hoek:
Originalveröffentlichung zu DSM-5
Originalkommentar der Arbeitsgruppe zu den Änderungen in DSM-5
Beschreibung der neuen Kriterien in DSM-5

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