Traurigkeit
Darf ich auch (grundlos) traurig sein?

Es gibt Tage, die sind schon scheiße, wenn Du am Morgen die Augen öffnest. Die sind schon scheiße, wenn der erste Funken Realität am Morgen in Dein Bewusstsein dringt.

Also zumindest bei mir, bei mir gibt es solche Tage.

Ja, ich habe jahrelang Therapie gemacht, habe mich in Selbsthilfegruppen ausgetauscht, habe sämtliche Weisheiten der Persönlichkeitsentwicklung verinnerlicht, bin für mich losgegangen, habe mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt, mir mein Traumleben erschaffen

– und trotzdem gibt es solche Tage.

Es gibt Tage, da öffne ich am Morgen die Augen und sie ist schon da.

Die Traurigkeit

Die mich unaufgefordert so viele Jahre begleitet hat.
Die ich so viele Jahre mit allen Mitteln der Kunst zu unterdrücken versucht habe.
Die dennoch zwar in unregelmäßigen Abständen, aber unerbittlich verlässlich immer wieder an der Oberfläche drang.

Die Traurigkeit, die sich auch heute nicht vertreiben lässt, indem ich sie leugne, indem ich sie ignoriere, so tue als gäbe es sie nicht.
Die Traurigkeit, die einfach ein Teil von mir ist.

Es gibt Tage, da öffne ich am Morgen die Augen und schon fließen die Tränen.
Da sehe ich nicht freudig auf den Tag, egal was auf mich wartet.
Es gibt Tage, da bin ich einfach traurig.

Dabei geht es mir doch jetzt so gut. Dabei gibt es doch gar keinen Grund mehr traurig zu sein. Dabei habe ich doch gar kein Recht mehr traurig zu sein!

Oder?

Ganz ehrlich – es fällt mir schwer, diese Traurigkeit zu akzeptieren.
Sie da sein zu lassen, mich nicht dafür zu verurteilen, mich nicht selbst als undankbar und „mit nichts zufrieden“ zu beschimpfen.
Ganz ehrlich – es fällt mir schwer, nicht gleich wieder meine Maske aufzusetzen, zu lächeln und mich zu verbiegen.

Ja, auch heute noch fällt mir das schwer.

Ich tanze im Regen, damit niemand mich weinen sieht.

— Charlotte Roche

Genau deswegen hat mich eine Geschichte angesprochen, über die ich vor einiger Zeit hier im World Wide Web gestolpert bin.
Diese Geschichte möchte ich heute mit Dir teilen.Vielleicht wird sie ja auch für Dich zum Seelenstupser.

Das Märchen von der Traurigkeit

von Inge Wuthe, gefunden auf lichtkreis.at

Es war einmal eine kleine Frau, die einen staubigen Feldweg entlanglief. Sie war offenbar schon sehr alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens.

Bei einer zusammengekauerten Gestalt, die am Wegesrand saß, blieb sie stehen und sah hinunter. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Decke mit menschlichen Konturen.

Die kleine Frau beugte sich zu der Gestalt hinunter und fragte: "Wer bist du?" Zwei fast leblose Augen blickten müde auf.
"Ich? Ich bin die Traurigkeit.", flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war.
"Ach, die Traurigkeit" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen.
"Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch.
Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal, hast du mich ein Stück des Weges begleitet."
"Ja, aber…" argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?"
"Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?"

"Ich…, ich bin traurig", sagte die graue Gestalt.

Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. "Erzähl mir doch, was dich so bedrückt."

Die Traurigkeit seufzte tief.
"Ach, weißt du", begann sie zögernd und auch verwundert darüber, dass ihr tatsächlich jemand zuhören wollte, "es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest."

Die Traurigkeit schluckte schwer.
"Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen wollen. Sie sagen: ‚Papperlapapp, das Leben ist heiter.‘ und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: ‚Gelobt sei, was hart macht.‘ und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: ‚Man muss sich nur zusammenreißen.‘ und spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: ‚Nur Schwächlinge weinen.‘ und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."

"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir auch schon oft begegnet…"

Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen.
"Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegenen. Ich helfe ihnen ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde und das tut sehr weh. Aber nur, wen die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, dass ich ihnen dabei helfe. Stattdessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu."

Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in ihre Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel.
"Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr Macht gewinnt."

Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin: "Aber…, aber – wer bist du denn eigentlich?"
"Ich?" sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd.
"Ich bin die Hoffnung"

Welch tiefe Wahrheit

Die meisten Menschen möchten keine Traurigkeit.
Nicht bei sich selbst und schon gar nicht bei Anderen. Sie ertragen nicht, wenn Andere traurig sind. Vor allem dann nicht, wenn sie sie gern haben.
Sie ertragen die Traurigkeit des Anderen nicht, wollen sie weg haben. Deshalb versuchen sie ihn "aufzuheitern", ihn zum Lachen zu bringen. Sie sagen "Mach doch mal ein fröhliches Gesicht" und "Hör doch auf zu Weinen!".

Doch was, wenn die Traurigkeit einfach gerade Platz braucht? Was, wenn die Tränen einfach gerade einmal fließen müssen? Wenn da gerade etwas ist, das betrauert werden muss – auch, wenn es der Andere nicht verstehen kann?

Durch das Weinen fließt die Traurigkeit aus der Seele heraus.

— Thomas von Aquin

Ich finde den Gedanken wunderschön:
Die Traurigkeit darf da sein, darf mich begleiten, muss nicht gebannt und unterdrückt werden.

Solange sie mit Hoffnung daher kommt, solange sie nicht hoffnungslos ist.
Solange die Hoffnung die Traurigkeit begleitet, darf ich immer traurig sein, darf ich weinen.
Ja sogar direkt am Morgen, wenn ich die Augen öffne. Einfach so. Weil ich mich gerade danach fühle.

Denn auch die Traurigkeit ist einfach ein Gefühl. Genau wie Freude und Liebe und Glück.
Und auch die Traurigkeit darf ihren Platz in meinem Leben haben.
Ja, sie soll sogar ihren Platz in meinem Leben haben!
Auch wenn sie für Andere vielleicht grundlos erscheint. Auch nach Jahren voller Selbstreflexion, voller Therapie, voller positiver Veränderung.

Auch in einem ansonsten wunderbaren Leben.

Tatsächlich wird die Traurigkeit in meinem Leben nicht mehr bekämpft. Tatsächlich ist sie sogar nicht nur geduldet.

Nein, sie ist sogar geliebt!

Denke ich heute an meine Traurigkeit, spüre ich Dankbarkeit.
Dankbarkeit dafür, dass ich die Traurigkeit SPÜREN kann. Dafür, dass ich mich traurig FÜHLEN kann. Darüber, dass ich weinen kann.
Denn es gab viele Jahre in meinem Leben, da konnte ich nicht weinen. Da war ich innerlich wie erstarrt, da waren in mir so viele Tränen, so viele Tränen, die nicht geweint werden konnten.
Ich habe viele Jahre meines Lebens verbracht – unfähig zu weinen. Kannst Du Dir vorstellen, wie schrecklich sich das anfühlt?

Wie geht es Dir mit Deiner Traurigkeit? Darfst Du traurig sein? Erlaubst Du Dir zu weinen? Einmal nicht heiter durch den Tag zu gehen?

Oder sitzt Deine Maske jeden Tag?
Weil Dein Umfeld nicht gut mit Traurigkeit umgehen kann? Weil andere Dich nicht weinen sehen können? Weil sie kein Verständnis dafür haben? Weil sie Sätze sagen, wie in der Geschichte?

Verbiegst Du Dich deswegen? Spielst Du den Menschen etwas vor? Vielleicht sogar Dir selbst?
So wie auch ich es lange Jahre getan habe, bevor ich mir erlaubt habe authentisch zu sein?

Wie schön wäre es doch, wenn wir Menschen einander einfach da sein lassen könnten.
Mit allen Gefühlen.
Auch mit den vermeintlich "negativen".
Auch mit Wut, Hass, Neid, auch mit Traurigkeit.
Wie wäre es, wenn wir einander weinen lassen würden, ohne zu versuchen, die Tränen zu vertreiben, ohne zu "trösten".
Wie wäre es, wenn wir einander einfach in den Arm nehmen würden. Für einander da sein. Die Traurigkeit aushalten oder vielleicht extra aushalten.
Damit die Tränen geweint werden können, die geweint werden müssen. Damit die Traurigkeit ihren Platz bekommt und irgendwann wieder gehen kann – und nur die Hoffnung zurückbleibt…

Trauern befreit, Hadern lähmt und entmündigt.

— Justus Vogt

Links in diesem Beitrag:
Zu den Blogbeiträgen:
Wer willst Du sein? – mein Start in ein neues Leben.
Seelenstupser – wie Geschichten und "kluge" Sprüche wirken können.
Authentizität – wie ich gelernt habe, ICH SELBST zu sein.
Direkt zur Website mit weiteren kleinen Geschichten: Gedankenwelten

4 comments
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Comments

  • Denise

    29. Dezember 2019 at 16:10
    Reply

    Liebe Anna, was ein schöner Blogpost. Vielen Dank fürs Teilen! Du hast mir heute mit deinen Worten sehr geholfen ❤️

  • Anna

    5. August 2019 at 17:30
    Reply

    Wunderwunderschön

    • Anna
      to Anna

      6. August 2019 at 12:17
      Reply

      Danke, liebe Anna, für diesen wunderbaren Kommentar.Ja, letztlich verbieten wir uns die Traurigkeit selbst. Weil wir gelernt haben, dass andere damit nicht umgehen können, weil […] Read MoreDanke, liebe Anna, für diesen wunderbaren Kommentar.Ja, letztlich verbieten wir uns die Traurigkeit selbst. Weil wir gelernt haben, dass andere damit nicht umgehen können, weil wir gelernt haben, dass unsere Traurigkeit nicht erwünscht ist, nur schwer ertragen wird.Einen Stein nach dem anderen - das klingt ganz wunderbar.Alles Liebe für Deinen Weg Read Less

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