Der Mist des Lebens
Oder - Leidest Du noch oder schaufelst Du schon?

Ganz am Anfang meiner Reise zu mir selbst standen zwei entscheidende Einsichten.
Sie ebneten mir den Weg, zeigten mir die Richtung und gaben letztlich den nötigen Schub, um loszugehen. Zu diesen Einsichten zu gelangen war langwierig, schmerzhaft, ein einziger Kampf mit mir selbst. Es brauchte viele Gespräche, Gespräche mit Experten, mit anderen Betroffenen, mit lieben Menschen. Aber auch viele Gedankenanstöße von außen, aus Büchern, Podcasts, Videos.
Doch irgendwann wagte ich die Augen zu öffnen, wagte es über den Tellerrand der Essstörung hinauszusehen, den dahinter stehenden Problemen ins Gesicht zu sehen. Das war der Moment in dem ich zum ersten Mal den Gedanken zuließ, dass mein ach so perfektes Leben vielleicht doch nicht so perfekt war – zumindest nicht für mich.
Es ist schwer sich selbst einzugestehen, dass sich das eigene Leben in eine Richtung entwickelt hat, in die man eigentlich gar nicht wollte. Nein – schlimmer! ICH hatte es in diese Richtung gelenkt! Es war ja tatsächlich alles nach Plan gelaufen, alles so wie ICH wollte – oder zumindest glaubte wollen zu müssen…

Ich hatte mein Leben also in eine Sackgasse manövriert. Diese erste Einsicht tat unglaublich weh.
Doch Einsicht Nr. 2 war noch ungleich schmerzhafter. Nicht zuletzt weil diese Wahrheit egal wie liebevoll formuliert, egal ob von einem Therapeuten, von einem Angehörigen oder vom Partner, in den Ohren des Betroffenen nur eines ist: ein Vorwurf, eine Schuldzuweisung, eine scheinbar ungerechtfertigte Kritik. Aber ja, sie hatten alle Recht: ich saß in der Opferrolle fest. Auch wenn ich tatsächlich nicht in Selbstmitleid versank, sondern aktiv nach einer Lösung suchte, sah ich mich innerlich doch als Opfer – als Opfer meiner Vergangenheit, Opfer des Schicksals, Opfer anderer Menschen. Aus diesem Grund suchte ich zwar nach einer Lösung, aber ich suchte im Außen. Ging in die Klinik, zu Beratungsstellen, Therapeuten – immer mit der Haltung: Hilf mir!
Dieses „Hilf mir!“ war aber kein „Hilf mir, mir selbst zu helfen“, sondern eher ein „Mir geht es so schlecht – mach, dass wieder alles gut wird!“.
Natürlich war ich bereit mitzuarbeiten, aber in welchem Maße konnte ich das schon? Ich war schließlich völlig ohnmächtig, der Situation ausgeliefert, eben ein Opfer der Gegebenheiten. Solange ich in dieser Opferfalle saß, änderte sich nichts. Ich kämpfte und kämpfte – und blieb doch auf der Stelle stehen.

Auch hier war es letztlich ein Impuls von außen, von Menschen, die ich nicht persönlich kenne und die mich nicht kennen, der alles änderte. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.
Es ist verdammt noch mal DEIN Leben! DU bist die einzige Person, die wirklich etwas ändern kann! DU alleine hast es in der Hand: gesund werden oder weiter leiden. Es ist DEINE Verantwortung, aber auch DEINE Entscheidung! Niemand zwingt Dich! Eines ist sicher: Das Leben geht weiter – ob mit Dir oder ohne Dich. Willst Du leben, musst Du aktiv werden. Keiner sagt, dass es leicht wird – im Gegenteil!
Aber nur wenn Du losgehst, kannst Du das Ziel erreichen – das Ziel eines glücklichen, erfüllten Lebens in Liebe und Freude…

Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas (zum Guten) ändert.

— Albert Einstein

Ajahn Brahm erzählt in seinem Buch Die Kuh, die weinte – Buddhistische Geschichten über den Weg zum Glück einen Vergleich, der mich und mein Leben sehr treffend beschreibt:
Stell Dir vor, jede Katastrophe in Deinem Leben, jedes Ereignis, das Dich aus der Bahn wirft, Dich deprimiert und belastet, ist als würde jemand eine riesige LKW Ladung Pferdemist direkt vor Deine Haustüre kippen. Du hast den Mist nicht bestellt, bist nicht darauf vorbereitet und völlig unschuldig an der ganzen Misere. Du denkst: Wieso passiert das ausgerechnet mir? Was habe ich getan, dass ich DAS verdient habe? Du suchst die Schuld im Außen oder bei Dir selbst, versinkst im Strudel negativer Gedanken, die zu nichts führen – denn das Leben ist nunmal nicht gerecht, nicht vorhersehbar, nicht kontrollierbar. Fakt ist: DU hast den ganzen Mist jetzt am Hals, DU, Dein Inneres, Deine Seele muss jetzt irgendwie mit der Situation klar kommen und keiner, weder Freunde, Familie, Dein Partner noch ein Therapeut oder Arzt kann Dir das abnehmen.
Da liegt er nun also vor Dir, der Haufen ekelerregender Pferdescheiße. Der Gestank ist so widerlich, durchdringend und unerträglich, dass Du kotzen könntest! Es ist grauenvoll, vernebelt Dir die Sicht, alles erscheint dunkel und grau – der Schmerz füllt Dich und Dein Leben vollkommen aus…
Der Mist steht für all die traumatischen Erfahrungen, die das Leben über uns auskippt, für die schwierige Kindheit, den physischen oder psychischen Missbrauch, den Tod eines geliebten Menschen, für die Erfahrungen von Einsamkeit, Ablehnung, Wertlosigkeit. Erfahrungen, die jeder Mensch irgendwann machen muss, die ebenso zum Leben gehören wie Liebe, Freude und Glück.
Doch es gibt zwei Möglichkeiten auf solches Unheil zu reagieren.

Ich habe lange Zeit den ersten Weg gewählt – einfach weil ich es nicht besser wusste, keinen anderen Ausweg gesehen habe. Ich habe den Mist die ganze Zeit mit mir rumgeschleppt, habe mir die Taschen jeden Tag aufs Neue damit vollgestopft, ihn mir in die Hose gekippt und an schlechten Tagen sogar direkt über den Kopf. Die Essstörung war mein Versuch ihn zu überspielen, ihn zu verbergen – vor den anderen, aber vor allem vor mir selbst. Ich habe mein Gehirn auf Sparflamme gestellt, habe meine Gefühle, meine Gedanken, meine Sinne betäubt, um mein Elend nicht mehr wahrzunehmen.
Doch der Gestank war allgegenwärtig und wurde unbemerkt Tag für Tag ein wenig schlimmer. Der Mist reifte – und ich reagierte mit noch stärkerer Selbstkontrolle, noch größeren Zwängen, einer Stärkung der Essstörung. Doch der Misthaufen wurde nicht kleiner – im Gegenteil! In Wahrheit packte ich noch mehr Scheiße obendrauf! Gewohnheiten, Ängste, Wahrnehmungsstörungen und eine zunehmende Entfremdung von der Normalität. Aber das war mein Versuch zu verhindern was unweigerlich geschieht, wenn Du jeden Tag Deines Lebens mit dem Mist in den Taschen, in Deinem Gemüt, Deiner Stimmung, Deinem Verhalten verbringst: Der Gestank wird irgendwann andere Menschen abstoßen, Menschen, die Dir nahestehen, wenden sich ab, können Deine schlechte Laune, Deine Ich-Bezogenheit, Dein lethargisches oder aufbrausendes Verhalten nicht mehr ertragen.
Auch eine Essstörung kann das nicht verhindern – im Gegenteil – ich isolierte mich selbst, konnte nirgendwo mehr unbeschwert hingehen. Essen ist allgegenwärtig…
Das Versinken in negativen Gedanken, Wut, Angst und Depression ist wie das ständige Herumtragen des Mists. Es ist eine ganz natürliche, menschliche Reaktion auf die Widrigkeiten des Lebens, bringt uns aber keinen Schritt weiter.

Zum Glück gibt es noch einen anderen Weg.
Wurde uns ein Haufen vor die Türe gesetzt, können wir über den Scheiß fluchen, schimpfen, weinen – und uns dann an die Arbeit machen. Wir können Schubkarre, Mistgabel und Spaten holen, den Dung in die Karre schaufeln, hinters Haus fahren und ihn im Garten vergraben. Die Arbeit ist anstrengend, ermüdend, geht unglaublich langsam – vielleicht schaffen wir nur eine halbe Schubkarre am Tag. Vielleicht brauchen wir auch erst die Anleitung von einem Therapeuten, einem Ernährungsberater, einem Arzt, von jemandem, der uns zeigt, welche Gerätschaften für die Arbeit geeignet sind, wo diese stehen, vielleicht auch wie groß die einzelnen Ladungen sein sollen, damit es unsere Kräfte nicht übersteigt. Vielleicht brauchen wir Menschen, die uns motivieren dranzubleiben, wenn die Kräfte schwinden, wir Pause machen müssen oder das Gefühl haben es geht nichts voran. Vielleicht brauchen wir Menschen, die neben uns an ihrem eigenen Haufen schaufeln, zu denen wir zwischendurch blicken können, Erfahrungen austauschen, mit denen wir gemeinsam über unser Leid weinen und uns über kleine Erfolge freuen können. Das alles kann eine Unterstützung sein und es ist richtig sich Unterstützung zu suchen.
Entscheidend aber ist mit der ERSTEN Schaufel Dung zu beginnen! Dafür zu sorgen, dass jeden Tag ein kleines Stückchen Mist in der Schubkarre landet, dass der Haufen jeden Tag Stückchen um Stückchen, Pferdeapfel für Pferdeapfel kleiner wird. Vielleicht dauert es Jahre, aber eines Morgens werden wir bemerken, dass der Haufen vor unserem Haus komplett verschwunden ist, werden plötzlich spüren, dass vom Schmerz nur eine leise Erinnerung geblieben ist. Dann werden wir feststellen, dass sich im Garten hinter dem Haus, in unserem Herzen, unserer Seele ein Wunder ereignet hat. Gedüngt durch den Mist sind wunderschöne Blumen gewachsen, Blumen der Liebe und Dankbarkeit, die ihren Duft verbreiten und auch den Nachbarn, dem Partner, den Menschen in der Umgebung ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Der alte Obstbaum, der Baum der Weisheit, hängt voller süßer, köstlicher Früchte, voller Einsichten über das Wesen des Lebens, die nicht nur uns selbst nähren und stärken, sondern die wir auch an Andere weitergeben können.
Der Mist unseres Lebens wird genutzt, als Dünger, als Nahrung für etwas Schönes, Neues, Wunderbares – und gleichzeitig wird der Berg aus Schmerz, Angst und Leid abgetragen.
Haben wir auf diese Weise unseren Garten angelegt, können wir einander bei größeren Tragödien umarmen und einfach sagen – ich weiß… – Dann wird der Andere begreifen, dass wir ihn wirklich verstehen, wirklich mitfühlen können. Vielleicht sind wir es dann, der ihm die Mistgabel zeigt, den Spaten, den Schubkarren und ihn zum Schaufeln ermutigt…

Ich habe begonnen meinen Misthaufen abzutragen und meinen Garten zu bestellen. Bemühe mich jeden Tag den Mist dort zu lassen wo er hingehört, nehme jede Unterstützung dankbar an, kenne bereits einige hilfreiche Werkzeuge und lerne jeden Tag weiter dazu.
Ich stehe da mit offenen Armen – ich weiß…
Lass uns gemeinsam weiterschaufeln, nebeneinander, jeder an seinem Berg – im Vertrauen darauf, dass es irgendwann geschafft sein wird, im Vertrauen darauf, dass irgendwann alles gut ist, dass irgendwann auch wir uns an unserem blühenden Garten erfreuen können.
Ich für meinen Teil glaube ganz fest daran und die ein oder andere Blüte blitzt auch schon vorsichtig hervor…

Und vielleicht sind wir dann sogar ein wenig dankbar dafür, dass unser Misthaufen größer ist als der vieler Anderer und uns die Möglichkeit gibt, unsere Blumen und Früchte wachsen zu lassen, die Möglichkeit, tiefere Einsichten in die Geheimnisse dieses Lebens zu gewinnen. Denn erscheinen uns nicht eigentlich immer die Menschen am geerdetsten, am glücklichsten, irgendwie in sich ruhend, die unabhängig von ihrem Lebensalter schon am meisten durchgemacht haben?

Oder um mit den Worten Ajahn Brahms zu schließen:
Sollten wir nicht angesichts unserer Tragödien, Probleme und Schwierigkeiten im Leben eigentlich sagen: „Aber hallo! Endlich wieder mehr Dünger für meinen Garten!“

Die größte Entscheidung Deines Lebens liegt darin, dass Du Dein Leben ändern kannst, indem Du Deine Geisteshaltung änderst.

— Albert Schweitzer

Links in diesem Betrag:
Zum Blockbeitrag: Das Geschenk der Essstörung
Zu meiner Rezension von: Die Kuh, die weinte
Direkt zum Buch von Ajahn Brahm: Die Kuh, die weinte


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Comments

  • Lisa

    20. Juni 2017 at 22:14
    Reply

    Liebe Anna, danke für diese wunderbare Metapher! Ich sitze hier und bin wirklich total gerührt. Mach weiter so und schreib bitte weiter so schöne […] Read MoreLiebe Anna, danke für diese wunderbare Metapher! Ich sitze hier und bin wirklich total gerührt. Mach weiter so und schreib bitte weiter so schöne Blogs :-) LG Lisa Read Less

    • Anna
      to Lisa

      22. Juni 2017 at 16:08
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      Liebe Lisa,es freut mich wirklich sehr, dass Du mit dem Bild etwas anfangen kannst! Ich liebe Metaphern einfach, sie machen ein Thema so deutlich, so […] Read MoreLiebe Lisa,es freut mich wirklich sehr, dass Du mit dem Bild etwas anfangen kannst! Ich liebe Metaphern einfach, sie machen ein Thema so deutlich, so plastisch, so greifbar...Und jetzt bin ich an der Reihe gerührt zu sein - Danke für die liebe Ermutigung!Deine Anna Read Less

  • Dani

    15. Juni 2017 at 13:44
    Reply

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    • Anna
      to Dani

      15. Juni 2017 at 17:13
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      Vielen lieben Dank für das liebe Feedback - ich kann es kaum erwarten! Es gibt noch so viel Neues zu entdecken, so viel zu lernen, […] Read MoreVielen lieben Dank für das liebe Feedback - ich kann es kaum erwarten! Es gibt noch so viel Neues zu entdecken, so viel zu lernen, das Leben ist so aufregend und toll! :-D Read Less

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