Loslassen
Oder: Wie meine Vergangenheit in Rauch aufging

Geh los! Geh einfach los!

Diese Worte, diese zwei einfachen Sätze, gesprochen von Laura Seiler in einer ihrer ersten Podcast-Folgen, hallten in meinem Kopf wider. Sie hallten wider, liefen in Dauerschleife, wieder und wieder, als wollten sie mich innerlich anfeuern. Doch umso öfter ich die Worte in mir hörte, umso bewusster wurde mir mein Stillstand, umso bewusster wurde mir, dass ich noch immer auf der Stelle trat – und umso verzweifelter und flehender wurde der Ton meiner inneren Stimme…

Ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder aufs Neue ein Datum festlegte, einen Tag, an dem alles anders werden sollte, an dem ich mich endlich wieder in Bewegung setzen, endlich die nächsten Schritte gehen würde.
Denn eigentlich, ja eigentlich wusste ich genau was zu tun war, wusste genau wie diese nächsten Schritte aussehen mussten, die nächste Schritte auf meinem Weg zu einem besseren, glücklicheren Leben.
Ja, die nächsten Schritte mussten ja nicht einmal besonders groß sein! Jeder Schritt, jeder einzelne Schritt zählte! Alles war besser als Stillstand, lähmender, schmerzhafter Stillstand, der mein Vertrauen in mich selbst, in meinen Willen, in meine Kraft mit jedem Tag, den er länger andauerte, mehr und mehr schwinden ließ…

„Wenn erst … erledigt ist, dann…!“
„Wenn … erst einmal vorbei ist, dann…!“
„Naja, vor … macht es jetzt ja auch keinen Sinn mehr…“

So oder so ähnlich waren die Gedanken, mit denen ich mich selbst permanent einlullte, mit denen ich mich selbst zu beruhigen versuchte, immer wenn sich das schlechte Gewissen, immer wenn sich mein kleines Panikmonster mal wieder meldete, immer wenn mich die Erkenntnis meines Stillstands wieder schmerzlich traf.
Und diese Gedanken, dieses Aufblitzen von schlechtem Gewissen kam immer häufiger, immer regelmäßiger, immer schmerzhafter, diese Gedanken wurden zum erneuten Schluckauf meiner Seele, der mir immer klarer spüren ließ, dass ich mein Verharren irgendwann – bald – bereuen würde.

Wer etwas wirklich will, der findet Wege. Wer nicht will, der findet Gründe.

— Götz Werner

Dieser in seiner Absolutheit gewollt provokant formulierte Satz, gehört in irgendeinem Podcast, gelesen auf irgendeiner Facebook Seite, auf irgendeinem Blog, brachte das Faß meiner inneren Unzufriedenheit schließlich zum Überlaufen.

Ich WOLLTE doch! Ich KONNTE nicht!!

Aber WIESO konnte ich nicht?
Objektiv gesehen konnte ich sehr wohl! Schließlich ging es nicht darum als Blinder Lesen zu lernen! Ich sollte auch nicht plötzlich die 100 m in unter 9 s laufen, sollte keine riskante Herz-OP durchführen, nicht das Beamen erfinden!
Ich sollte „nur“ mein Verhalten ändern! Natürlich KONNTE ich das! Natürlich lag das in meiner Hand, in meiner Verantwortung, in meinen Möglichkeiten!
Also, was war es, das mich wie ein unsichtbares Gummiband zurückzuhalten schien, mich daran hinderte loszugehen, die nächsten Schritte zu unternehmen, ins Handeln zu kommen?
Moment – eigentlich war da ja gar kein Gummiband, eigentlich war es ja ich selbst, die immer wieder nur einen kurzen, vorsichtigen Blick riskierte auf die Aufgaben, die da vor mir lagen, die immer gleich wieder verschreckt in das Altvertraute, das Gewohnte, in die kuschelige Komfortzone flüchtete!
Der neue Weg erschien mir plötzlich wie ein wackeliges Brett, an dessen Seiten der Abgrund gähnte und dessen Ende zu allem Überfluss in einer dicken Nebenwand verschwand, dessen Ende ich nicht einsehen, ja nicht einmal erahnen konnte. Deshalb zögerte ich, zauderte, ging höchstens einen ganz kleinen Schritt, um gleich wieder umzukehren, mich wieder an den vermeindlich sicheren Ausgangspunkt zu retten, um noch einmal Kraft zu tanken, um noch einmal Mut zu sammeln, Mut zu sammeln für den nächsten Versuch – den nächten Versuch, bei dem ich dann aber ganz sicher weitergehen würde, meinen Weg auf jeden Fall durchziehen würde! Wirklich! Mit Sicherheit!
Glaube ich… hoffe ich… vielleicht…

„Okay – Anna, Schatz, was ist da los?
Natürlich hast Du Angst! Natürlich weißt Du, dass es schwer wird! Natürlich wäre Stillstand bequemer! Aber er macht Dich unglücklich! Unglücklich-Sein ist keine Option!“

Was war es wirklich, was mich zurück hielt?
Oder die viel bessere, weil in die Zukunft gerichtete Frage lautete:
Was brauchte es noch, um mich aus der Schockstarre zu befreien, um mich endlich wieder auf den Weg zu machen, um endlich wieder loszugehen für mein starkes WARUM.
Hatte ich nicht bereits zu Beginn meiner Reise beschlossen, dass ich nur das werden könnte, was ich sein WILL, wenn ich LOSLASSE was ich jetzt BIN? Warum fiel es mir jetzt so schwer loszulassen? Ich hatte doch erkannt, WAS ich loslassen musste, was die liebgewonnenen Verhaltensweisen, die liebgewonnenen Gewohnheiten, ja sogar die Vorteile des status quo waren. Ich wusste inzwischen genau, warum ich das alles nicht mehr wollte, hatte ein großes Ziel, ein großes Ziel bei dem mir das Alte, die Vergangenheit im Weg stand. Nur wenn ich die Vergangenheit los ließ, schuf ich Platz für Neues, nur wenn die bemalte Leinwand einer wirklich komplett leeren wich, nur dann konnte ich mir ein neues Leben entwerfen, nur dann wurde die Vergangenheit NICHT zur Vorlage für die Zukunft!
Ich hatte Frieden geschlossen mit der Vergangenheit, mit meinem bisherigen Leben, hatte alles angenommen was war, liebevoll, dankbar. Dankbar für das, was es mich gelehrt hatte, dankbar dafür, dass es mich zu der Person gemacht hatte, die ich heute bin.
Ja, ich habe mich entschieden zu vertrauen, habe mich entschieden die Waffen niederzulegen, habe mich entschieden, den Kampf einzustellen, den Kampf gegen meine Vergangenheit, aber vor allem den Kampf gegen mich selbst.
Was brauchte es noch?

Und plötzlich, als ich innerlich zur Ruhe kam, als ich endlich ins Gefühl ging, als ich mich mir selbst, meiner Seele endlich liebevoll zuwandte, der Stimme in meinem Inneren endlich geduldig zuhörte, plötzlich wusste ich, was es noch brauchte, plötzlich wusste ich was bisher gefehlt hatte:

Zeit.
Zeit für Gefühle, Zeit für Abschied, Zeit zu Trauern.

Das Loslassen war bisher eine kognitive Entscheidung gewesen, eine gute, eine wichtige Entscheidung – aber eine Entscheidung die in meiner Seele, in meinem Inneren, in meinem Herz nicht angekommen war…
Für ein wirkliches, ein wahres Loslassen brauchte es jedoch ein deutliches Zeichen, eine deutlich sichtbare Veränderung, einen Abschied und einen Neubeginn.

Die Denkweise, die uns dahin gebracht hat, wo wir sind, wird uns nicht dahin bringen, wo wir hin wollen.

— Tony Robbins

Gemäß dieses Spruches begann ich um die Ecke zu denken, beziehungsweise begann ich tatsächlich ausnahmsweise mal GAR NICHT zu denken! Ausnahmsweise schaltete ich mein Hirn mal bewusst aus, horchte in mich hinein, versuchte herauszufinden, was mein Innerstes, meine Seele brauchte, um wirklich zu begreifen, dass das Alte in Liebe beendet, dass etwas Neues geboren wurde.

Ich horchte in mich hinein und schmiedete einen Plan. Ich plante das Loslassen wie ein großes Fest, mit eingeladenen Gästen und Ablaufplan, ich plante es wie eine Beerdigung und einen Geburtstag zugleich.

Das Ritual

Im Vorfeld durchforstete ich mein Bilderarchiv, suchte Fotographien aus der Vergangenheit, Motive, die für verschiedene Phasen meines Lebens standen, Phasen meines Lebens, in denen es mir schlecht ging, die ich nie wieder erleben, die ich loslassen wollte.
Ich suchte Musikstücke aus, Lieder, die mich und meine Seele an meinem Abschiedsfest begleiten sollten, stellte eine Playlist zusammen, variierte die Reihenfolge der Lieder so lange, bis sie sich stimmig anfühlte.
Ich weihte den Menschen in mein Vorhaben ein, der mir am nähesten steht, den Menschen, auf den ich mich immer verlassen kann, in guten wie in schlechten Tagen, den Menschen meines Herzens. Ich bat ihn mir zur Seite zu stehen, den Abschied mit mir zusammen zu begehen.

Am „Festtag“ selbst bereiteten wir den Neuanfang vor. Wir räumten einen Teil der Wohnung um, als äußeres Zeichen des Aufbruchs, bestellten für den Abend Essen in unserem Lieblingsrestaurant, deckten den Tisch für ein romantisches Dinner, für die Feier meines Neubeginns, für die Feier des Lebens.

Mit Einbruch der Nacht gingen wir Hand in Hand zu einem nahegelegenen Grillplatz und entzündeten ein Feuer. Wir setzten uns an die lodernden Flammen, betrachteten die Fotos, eins nach dem anderen, begleitet von den Klängen der Musik.
Ich nahm mir Zeit für jedes einzelne von ihnen, schaute es mir ganz genau an, sagte laut für mich, warum dieser Teil der Vergangenheit keinen Platz mehr in meiner Zukunft haben sollte. Danach hielt ich es vorsichtig ins Feuer und sah zu, wie es feierlich in Rauch aufging.
So verbrannten die Bilder, eines nach dem anderen.
Ich wurde von meinen Gefühlen übermannt, schluchzte, weinte, heulte, während Metallica im Hintergrund Nothing else matters performte.
Es war schmerzhaft, es war traurig, es war rührend – und es war erleichternd, reinigend und einfach nur wunderschön
Als alle Fotos verbrannt waren, betrachteten wir zu Katie Melua’s Nine million bicycles noch eine Weile die Flammen, andächtig und schweigend, bevor wir zuhause im Kerzenschein mit meiner ersten Pizza nach vier Jahren den Neubeginn feierten.
Als wir schließlich ins Bett gingen, hatte ich endgültig Frieden geschlossen mit der Vergangenheit, hatte Frieden geschlossen mit allem was war…

Du kannst Deine Vergangenheit nicht ändern, aber Du kannst heute ändern, was morgen Deine Vergangenheit sein wird.

Immer wenn ich heute Gefahr laufe, in alte Muster, in alte Gewohnheiten zurückzufallen, immer wenn ich Gefahr laufe vom eingeschlagenen Weg abzukommen, immer dann kann ich die Bilder dieser magischen Nacht hervorholen und mich wieder daran erinnern. Kann mich daran erinnern, wie ich Abschied gefeiert habe, kann das Loslassen innerlich erneut durchleben, kann wieder nach der Richtschnur greifen, nach meinem roten Faden, der mir den Weg weist. Den Weg zur Liebe, den Weg zum Leben…

So verrückt das Ganze auch für Dich klingen mag, so widersinnig es erscheint, dass nach einem einzigen Abend, nach einem solchen abstrus anmutenden Ritual plötzlich alles anders ist, so sehr hat es sich für mich bewahrheitet.

Vielleicht musst auch Du noch irgendetwas aus Deiner Vergangenheit loslassen?
Vielleicht hält auch Dich noch irgendetwas zurück, wie ein unsichtbares Gummiband?
Vielleicht kann auch Dir ein Ritual, eine Art Abschiedsfeier helfen?
Es müssen ja keine Bilder sein, vielleicht sind es eher Worte, gesprochen oder geschrieben, die Deine Seele loswerden, die Deine Seele loslassen muss?
Vielleicht hilft es Dir aufzuschreiben, was Du in Zukunft nicht mehr in Deinem Leben haben, was Du liebevoll verabschieden magst?
Du könntest eine Art Scheidungsvertrag schreiben, eine Art Abschiedsbrief, eine Liebeserklärung, ein Gedicht?
Worte, die Du anschließend, ähnlich wie ich, verbrennen kannst. Oder Du zerreißt das Blatt in Fetzen, bastelst ein Boot, eine Flaschenpost, die Du anschließend der Strömung eines Flusses anvertraust. Du könntest die Worte oder Bilder auch mit einem Luftballon in den Himmel aufsteigen lassen, sie an einem schönen Ort im Wald vergraben, …
Tu was immer Dir in den Sinn kommt, was immer sich FÜR DICH richtig anfühlt!
Ajahn Brahm macht in einem seiner Bücher sogar den Vorschlag, direkt auf Toilettenpapier zu schreiben, um die Worte anschließend im Klo runterzuspülen – wenn es hilft, warum nicht?

So wie ein Baum im Herbst die alten, verwelkten Blätter abwerfen muss, den Ballast abwerfen muss, für ein erneutes Aufblühen im nächsten Jahr, so müssen auch wir, Du und ich, immer wieder Dinge in unserem Leben gehen lassen. Der Prozess des Loslassens ist dabei für jeden Menschen anders, ja sogar jeder einzelne Abschied ist irgendwie anders, aber jeder einzelne Abschied ist unglaublich wichtig, wichtig um Platz für Neues zu schaffen, wichtig um die Kräfte wieder auf die Gegenwart zu richten.

Nur wer loslässt, hat beide Hände frei.

— Chinesische Weisheit

Ich persönlich, ich für mich, ich brauche jetzt beide Hände frei.
Ich brauche beide Hände frei auf meinem Weg zum Glück, auf meiner Reise zu mir selbst.
Ich brauche beide Hände frei, um Steine aus dem Weg zu räumen, brauche beide Hände, um mich selbst zu umarmen…

Links in diesem Beitrag:
Zu den Blogbeiträgen: Wer willst Du sein?, Der Mist des Lebens, Warum willst Du krank sein?, Der Frosch in der Milch
Links zu den Liedern auf youtube: Nothing else matters, Nine million bicycles
Zu meinen Buchempfehlungen: Analoge Seelenwegbereiter
Zu meinen Linkempfehlungen: Digitale Seelenwegbereiter

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Mein Name ist Anna und ich bin auf der Reise zu mir selbst. Vielleicht hast Du ja Lust mich ein Stück auf meinem Weg zu begleiten?

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„Nur wer loslässt, hat beide Hände frei.“

— Chinesisches Sprichwort
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